Wenn das Bewusstsein für die Gesamtheit, die Ganzheit, im Herzen erwacht und die Erkenntnis der Verbundenheit aller Wesen aufgegangen ist, dann ist es nicht mehr möglich, sich exklusiv einem Fragment zuzuwenden und dann dort steckenzubleiben. Sobald das Bewusstsein für die Ganzheit erwacht ist, wird jeder Augenblick heilig,
wird jede Regung heilig. Die Empfindung von Einheit ist dann keine intellektuelle Vorstellung mehr.
In all unseren Handlungen werden wir mühelos ganz und natürlich sein.
Alles Handeln oder Nicht-Handeln wird dann das Aroma der Ganzheit verströmen.
Vimala Thakar
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Vimala Thakar: Spirituelle Revolutionärin (15. April 1923 – 11. März 2009)
Ein persönlicher Nachruf von Chris Parish (aus dem Jahr 2009)
Es ist gut möglich, dass Sie über den Tod von Vimala Thakar nichts gelesen haben, denn die westlichen Medien haben darüber nicht berichtet. In den indischen Zeitungen waren einige wenige Artikel zu finden, doch spiegelten diese kaum etwas von der Bedeutsamkeit des Lebens von Vimala Thakar wieder, die diesen März in ihrem Haus in Indien in Mount Abu, einer kleinen Stadt auf einem Berg in der Wüste Rajasthans, gestorben war. Für diejenigen, die das große Glück hatten ihr zu begegnen, wiegt die Sache schwerer. Wenn ich an die großartigen erleuchteten Männer und Frauen denke, die ich in meinem Leben bisher treffen durfte, und ich habe jahrzehntelang keine Mühe gescheut, um solche ungewöhnlichen Persönlichkeiten aufzusuchen, dann taucht in meinen Gedanken immer zuerst Vimala Thakar auf. Keiner, der ihr begegnet ist, konnte davon unberührt bleiben.
Denn sie war eine große spirituell erleuchtete Revolutionärin und Aktivistin; eine bemerkenswerte Persönlichkeit im Indien des 20. Jahrhunderts, die unerschrocken einen radikal unabhängigen Ansatz zu Spiritualität und der Suche nach der Wahrheit verfolgte. Von allen religiösen Traditionen befreit, brachte sie die zeitlose Weisheit des Ostens in den modernen egalitären Westen. Ohne den belastenden religiösen Wortschatz war es ihr Anliegen, mittels tiefgehender rationaler Auseinandersetzung die Menschen zu erwecken. Unbeirrbar unabhängig und einzig ihrer brennenden Leidenschaft verpflichtet, reiste sie mehrere Jahre um die Welt, besuchte in den 60ern, 70ern und 80ern 35 Länder und mahnte jeden, der bereit war ihr zuzuhören, zur „Ganzheit des Lebens“ zu erwachen, wie sie es nannte.
Ihre ungewöhnliche spirituelle Leidenschaft begann früh. „Im Alter von fünf Jahren wurde mir bewusst, dass es etwas Größeres, Höheres gibt“ schrieb sie, und dass sie mit sieben von zu Hause in den Wald fortlief, um nach Gott zu suchen. Vimala wusste, dass ihr Leben von der Befreiung bestimmt sein würde und erfuhr Unterstützung für ihre spirituelle Neigung von ihrem Vater, der selbst ein Freigeist war. Das Leben der jungen Vimala liest sich wie ein indisches Epos. Mit 19 verbrachte sie ein Jahr in einer Höhle um zu meditieren; sie experimentierte mit spirituellen Praktiken, besuchte Ashrams und wurde immer wieder von den hinduistischen Autoritäten zurückgewiesen, aus dem einfachen Grund, dass sie eine Frau war. Man kann sich nur schwer ausmalen, wie mutig und revolutionär sie als Frau und spirituell Suchende im traditionellen Indien der 1930er und 40er Jahre gewesen sein muss. Doch trotz häufiger Kränkungen blieb sie gänzlich unbeirrt.
Als junge Frau wurde sie eine führende Persönlichkeit in der von Ghandi inspirierten Bodenreform-Bewegung von Vinoba Bhave. Unermüdlich fuhr sie von einem indischen Dorf zum nächsten, um Vorträge zu halten und wohlhabende Landbesitzer dazu zu bringen, den landlosen und völlig verarmten Landarbeitern Bodenbesitz abzutreten.
Eine Einladung, einige Vorträge des legendären spirituellen Lehrers J. Krishnamurti zu hören, sollte 1956 zum Wendepunkt in ihrem Leben werden. Als sie ihm zuhörte und später auch traf, löste das eine Explosion und eine unwiderrufliche Transformation tief in ihrem Wesen aus, sodass sie sich von einem unkontrollierbaren Bewusstsein und einem Feuer brennender Leidenschaft eingenommen fühlte. Krishnamurti, der ihre innere Befreiung erkannte, flehte sie an, in die Welt hinaus zu gehen und zu lehren. Darum hat er, soweit ich weiß, in seiner ganzen fünfzigjährigen Laufbahn als Lehrer niemanden sonst gebeten.
Er sagte zu ihr: „Warum explodierst du nicht? Warum legt du keine Bomben unter all diese alten Leuten, die den falschen Weg gehen? Geh hinaus – schrei es von den Dächern. Geh hinaus und entflamme sie! Es gibt niemanden der dies tut. Nicht einen einzigen … Worauf wartest du noch?”
Also gab sie den sozialen Aktivismus in der Landverschenkungsbewegung auf, um als unabhängige spirituelle Lehrerin die Welt zu bereisen, Vorträge zu halten und Camps für Meditation und innere Erforschung zu veranstalten.
In einem offenen Brief an ihre ehemaligen Kollegen schrieb sie:
„Meine Verbindung mit der Bewegung ist vorbei … keine Ruhe und Genügsamkeit mehr; sondern eine tiefgreifende menschliche Revolution. Eine menschliche Revolution, die daraus besteht, sich von jeder Art persönlicher, nationaler, ethnischer und ideologischer Voreingenommenheit zu befreien…Alles was unserem Verstand über Jahrhunderte hinweg eingeimpft wurde, muss vollständig verworfen werden.“
Und weltweit gelehrt hat sie. Wohin auch immer sie eingeladen wurde, machte sie sich auf den Weg, reise jahrzehntelang durch Europa, Amerika und Indien, bis sie sich 1991 entschied, in Indien zu bleiben. Ihre vielen Bücher wurden in zwölf Sprachen übersetzt.
Vimala war so unabhängig im Geist, dass sie sich selbst nicht als Schülerin von Krishnamurti sah. Sie wiederum betrachtete die vielen Menschen um sie als Freunde und sagte, dass Lehrer und Schüler sich als Freunde begegnen sollten. Kaum überraschend verfolgte sie ihren eigenen Ansatz, und obwohl sie den Dogmen der Religionen kritisch gegenüberstand, befürwortete sie dennoch, dass spirituell Suchende mindestens 3-4 Stunden täglich mit spiritueller Praxis und Meditation verbringen sollten; ganz im Gegensatz zu Krishnamurti, der die Verrichtung jedweder Form spiritueller Praxis stets missbilligte.
Bemerkenswerterweise kam sie 1979 in einem späteren Kapitel ihres Lebens zum Aktivismus zurück und setzte sich für soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und die Fürsorge der Armen und Entrechteten ein. In ihrer eigenen ganzheitlichen Herangehensweise zum Aktivismus war sie erneut ihrer Zeit voraus, indem sie die Notwendigkeit einer tatsächlichen Integration von sozialem Handeln und Spiritualität auf einer tiefen bahnbrechenden Ebene erkannte. Sie betrachtete die innere Befreiung als eine soziale Verantwortung und die Auffassung, dass das innere Leben Privatsache sei, war ihr fremd. Völlige Revolution, innerlich und äußerlich, war ihr Aufruf. Und so war auch ihr Leben.
“Aber es gibt unendlich viel mehr im Leben, und wer es mit Leidenschaft lebt und wagt, jenseits des Bruchstückhaften und des Oberflächlichen, das Geheimnis der Ganzheit zu ergründen, hilft der gesamten Menschheit zu erkennen, was es wirklich heißt, voll und ganz Mensch zu sein. Revolution, vollkommene Revolution, setzt das Experimentieren mit dem Unmöglichen voraus. Und wenn ein Mensch einen Schritt in die Richtung des Neuen, des Unmöglichen geht, dann schreitet die gesamte Menschheit durch diesen einzelnen Menschen voran.“
Ich werde meine erste Begegnung mit dieser bemerkenswerten Frau in Indien im Jahr 1996 nie vergessen, als ich zu ihr gekommen war, um sie für eine Zeitschrift zu interviewen. Sie hatte kein Interesse an öffentlicher Aufmerksamkeit, oder daran fotografiert oder interviewt zu werden, was einer der Hauptgründe dafür ist, dass sie nicht bekannter ist. Nur ungern gab sie meiner Bitte um ein Interview nach. Doch den vielen Suchenden, ganzen Gruppen und Würdenträgern, die von überall aus der Welt den Weg zu ihr fanden, stand sie zur Verfügung. Als ich sie in ihrem Haus in Mount Abu besuchte, war sie bereits eine ältere, kleine, würdevolle indische Dame und trug einen weißen Sari. Ihre Geistesgegenwart und Aufmerksamkeit erstaunten mich. Ihr Wesen war völlig ruhig und strahlte die mysteriöse Präsenz und den Frieden der Ewigkeit aus. Ihre Augen waren groß, weich und warm und gleichzeitig war sie unglaublich stark und furchtlos; es war als ob man in ihr sehen könne, dass die menschliche und die absolute Dimension tatsächlich nicht voneinander getrennt sind. Vimalas natürliche Art war entwaffnend, freudig und ihr Wesen war umgeben von den Merkmalen einer befreiten Seele. Als sie aufstand, war ich überrascht, wie klein sie war, weil sie solch eine Autorität und Kraft ausstrahlte. Wie sie sich selbst sehe, fragte ich sie.
„Ich bin ein einfacher Mensch, der das Leben liebt und es als göttlich begreift. Ich war immer in das Leben verliebt, unglaublich verliebt in den menschlichen Ausdruck als das göttliche Leben“
In ihrer Gegenwart konnte ich das erste Mal die Züge einer befreiten Frau erkennen. Diesen unmissverständlichen Eindruck habe ich nie vergessen. Denn sie war keine Mutterfigur, nicht eine der klassischen indischen Heiligen, die als Göttliche Mutter lehren. Vimala war eine emanzipierte Frau.
Sollte die spirituelle Geschichte der Welt je aus dem Blick der Zukunft dokumentiert werden, verdient Vimala Thakar auf jeden Fall einen Eintrag als eine Pionierin, die die Weisheit des Ostens in den Westen gebracht und in eine einfache, nicht-esoterische Sprache übersetzt hat. Krishnamurti wird für eine ähnliche Rolle sehr viel mehr gerühmt, doch wenn er ein weibliches Pendant hätte, dann müsste es Vimala Thakar sein. In Erinnerung würde sie auch bleiben für ihre nahtlose Integration der beiden, für gewöhnlich auseinandergehenden, Strömungen von innerem Erwachen und sozialem Aktivismus, die sie auf eine Art und Weise verband, die uns allen als Beispiel dienen kann.
Mit ihrem Tod, ist eine große Seele von uns gegangen.
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Auszüge aus dem Buch „Spirituality and Social Action: A Holistic Approach“ (Spiritualität und Soziales Handeln: Ein ganzheitlicher Ansatz) von Vimala Thakar
Wir teilen unsere innere Welt mit den gleichen positiven oder negativen Bezeichnungen ein, wie wir dies mit der äußern Welt tun; und Kriege finden hier wie dort statt. Wir sind innerlich gespalten; die Gefühle wollen das eine, der Verstand will etwas anders und die körperlichen Impulse wollen wieder etwas anderes. Es ist ein Konflikt im Gang, der sich zwar vom Ausmaß aber nicht von der Qualität her von den Kriegen der Welt unterscheidet. Wenn unsere Beziehung zu uns selbst nicht auf Ganzheit beruht, sollte es uns dann überraschen, dass wir die Welt nicht als Ganzes wahrnehmen können? Wenn jeder von uns meint ein bunt zusammengewürfelter Haufen erwünschter und unerwünschter Eigenschaften, widersprüchlicher Ziele, unverdauter Glaubensätzen und Vorurteile, Ängste und Unsicherheiten zu sein, werden wir das dann nicht auf die Welt projizieren?
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Ein ganzheitlicher Ansatz basiert auf der Erkenntnis der Homogenität und Ganzheit des Lebens. Das Leben ist nicht zerstückelt oder zerteilt. Es kann nicht aufgeteilt werden in spirituell und materiell, individuell und kollektiv. Wir können das Leben nicht in Abteilungen aufspalten – politisch, ökonomisch, sozial, ökologisch. Alles was wir tun oder lassen, betrifft und beeinflusst das Ganze, die Gesamtheit. Wir sind auf natürliche Weise auf ewig mit der Ganzheit verbunden. Wir sind die Ganzheit und wir bewegen uns in ihr. Das Bewusstsein von Einheit weigert sich das Getrenntsein zu erkennen. Eine ganzheitliche Haltung zu haben bedeutet, all die Segregationen im Namen von Religion oder Spiritualität, all die Unterteilungen im Namen der Sozialwissenschaften, all die Spaltungen im Namen der Politik, all die Trennungen im Namen von Ideologien nicht mehr zu erkennen und nicht mehr anzuerkennen. Wenn wir die Wahrheit verstehen, werden wir am Falschen nicht länger festhalten. Sobald wir das Falsche als solches erkennen, werden wir ihm keinen Wert mehr beimessen. Wir geben ihm im täglichen Leben keine Aufmerksamkeit mehr, wir „ent-anerkennen“ es. Eine seelische und psychologische „Ent-anerkennung“ jedweder Form von Gespaltenheit ist der Anfang positiven sozialen Handelns. Wenn das Bewusstsein für die Gesamtheit, die Ganzheit, im Herzen erwacht und die Erkenntnis der Verbundenheit aller Wesen aufgegangen ist, dann ist es nicht mehr möglich, sich exklusiv einem Fragment zuzuwenden und dann dort steckenzubleiben. Sobald das Bewusstsein für die Ganzheit erwacht ist, wird jeder Augenblick heilig, wird jede Regung heilig. Die Empfindung von Einheit ist dann keine intellektuelle Vorstellung mehr. In all unseren Handlungen werden wir mühelos ganz und natürlich sein. Alles Handeln oder Nicht-Handeln wird dann das Aroma der Ganzheit verströmen.
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Wenn wir uns zum Opfer negativer Energien und Gedanken machen und uns von Depression, Schwermut und Verbitterung überwältigen lassen, verunreinigen diese Energien die Atmosphäre. Wo ist da die Privatsphäre? Es ist unsere soziale Verantwortung zu lernen, den Geist als ein gemeinschaftliches Werk zu betrachten und unsere individuelle Ausdrucksweise als Teil der Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Geistes zu erkennen. Es ist absolut notwendig, dass wir uns innerlich von der Vergangenheit, den Denkstrukturen, dem durchorganisierten und genormten kollektiven Verstand befreien, wenn wir einander ohne Misstrauen und Argwohn begegnen wollen, wenn wir uns ungezwungen und ohne Scheu anschauen wollen, einander ohne jede Hemmung zuhören wollen. Das Verstehen des Geistes und die Erforschung innerer Freiheit sind weder utopisch noch egoistisch, sondern dringend notwendig, damit wir als Menschen die Hindernisse überwinden können, die die Herrschaft des Denkens zwischen uns aufgebaut hat. Dann werden wir uns selbst als Menschen ohne Etiketten wahrnehmen, nicht als Inder, Amerikaner, Kapitalist oder Kommunist, sondern als menschliche Wesen, jeder eine eigene kleine Ganzheit. Das haben wir bisher noch nicht gelernt. Wir sind gemeinsam hier auf diesem kleinen Planeten und können dennoch nicht miteinander leben. Körperlich sind wir einander nahe, doch psychologisch sind wir meilenweit voneinander entfernt.
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Allerdings haben wir nun den Punkt erreicht, an dem wir es uns nicht länger leisten können, egozentrischer Bequemlichkeit und persönlichem Wohlstand nachzugehen oder uns auf Kosten gemeinschaftlicher Interessen in religiöse Bestrebungen zu flüchten. Es darf für uns kein Entkommen oder Rückzug geben, keinen privaten Ort, an dem wir dem Leid der Menschheit den Rücken zukehren können und sagen: „Ich bin nicht verantwortlich. Andere haben dieses Durcheinander geschaffen, sollen die es auch wieder in Ordnung bringen“. Die Botschaft ist klar und deutlich: „Lernt zusammen zu leben oder getrennt zu sterben!“ Wir haben die Wahl.
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Wenn wir überleben wollen, dann muss eine zärtliche und liebevolle Fürsorge für alle Geschöpfe in unseren Herzen entstehen und regieren. Unser Leben wird nur dann wahrhaftig gesegnet sein, wenn die Not eines Einzelnen aufrichtig als die Not aller empfunden wird. Die Macht der Liebe ist die Macht vollkommener Umwälzung. Sie ist eine noch nicht entfesselte Macht, die als treibende Kraft für Veränderung bisher unerkannt und unerforscht ist. Es genügt nicht, dass einige Wenige in der Gesellschaft zu den Tiefen des Lebens vordringen und faszinierende Berichte über die Einheit aller Wesen abgeben. In dieser entscheidenden Zeit ist es erforderlich, dass jeder einfühlsame und fürsorgliche Mensch die Tatsache des Einsseins für sich persönlich entdeckt und echtes Mitgefühl in sein Leben strömen lässt. Wenn Mitgefühl und die Erkenntnis des Einsseins zur treibenden Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen werden, dann wird sich die Menschheit weiterentwickeln.
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